Ein besonderer Nachmittag: Gemeinsam mit zwölf Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 7- 11 und einigen weiteren Gästen, darunter Hartmut Brinkmann, Vorsitzender des Schulelternrates, hat sich Arie Windmüller am Donnerstag auf die Suche nach Spuren seiner Familie begeben. Nach einem Tee-Empfang im Rummel des Rathauses, bei dem Windmüller und seine Frau Shoshana herzlich von Bürgermeisterin Risius begrüßt worden waren, ging es knapp vier Stunden durch Emdens Innenstadt. Bis 1933 hatte die Familie Windmüller hier gewohnt und eine Schlachterei betrieben, bevor die Nazis den Gewerbeschein des Vaters einzogen und damit faktisch ein Berufsverbot verhängten.
Zu Beginn des Rundganges verharrt die Gruppe einen Moment am Mahnmal für die Emder Widerstandskämpfer, bevor es weiter in die Mühlenstraße geht. Hier hatte die Familie Windmüller ihre Wohnung, hier war auch Max Windmüller geboren worden. Das damalige Haus mit der Nummer 44 ist im Krieg zerstört worden, doch erinnern inzwischen Stolpersteine an den ehemaligen Wohnort der Familie. Zum ersten Mal bekommt Arie Windmüller diese in den Boden eingelassenen Mahnmale am Donnerstag zu Gesicht, unter denen sich auch ein Stein für seinen Vater Isaak befindet. Zusammen mit seinem Bruder Max wollte dieser kurz vor Kriegsbeginn im Sommer 1939 mit dem Auswandererschiff Dora von Rotterdam nach Palästina fliehen. Doch kurz vor der Abfahrt wurde Max von Freunden überzeugt das Schiff zu verlassen und zurück in den Widerstand zu gehen. Während Max kurz vor Kriegsende erschossen wurde, blieb Isaak an Bord, überlebte und gründete eine Familie, aus der seine Söhne Arie und Prof. Yaron Windmüller hervorgingen. Immer wieder bleibt Arie Windmüller stehen, um aus dem Leben der Windmüllers in Emden zu erzählen: So sei Max ein „Drummel“ gewesen, ein Schelm also, der immer wieder für Späße gesorgt habe und manchmal etwas übermütig war. Der Anblick des Falderndelftes ruft Arie Windmüller dazu eine Anekdote aus den Erzählungen des Vaters ins Gedächtnis zurück: Als er mit Max auf einem Fuhrwerk gespielt habe, sei Isaak heruntergestürzt – „Schlüsselbeinbruch – sechs Wochen Gips.“
Nach einem kurzen Halt vor der Schlachterei Störk, bei dem der Junior-Chef davon erzählt, dass sein Großvater das Geschäft von der jüdischen Familie van der Wyk übernommen habe, die ebenfalls in der Mühlenstraße ansässig war, geht es durch die Max-Windmüller-Straße zum Mahnmal für die während der Reichspogromnacht zerstörten Synagoge. „Hier hat mein Vater seine Bar Mizwa gehabt“, erzählt Windmüller und berichtet, dass sein Vater später immer wieder von der Schönheit des Gotteshauses geschwärmt habe.
Weiter geht es zum jüdischen Friedhof, nur wenige Meter entfernt. Arie Windmüller verharrt erneut, als er das Mahnmal für die Emder Juden betrachtet. Hier spricht er im Angedenken an seine Familie das Kaddisch, das traditionelle Gebet für die Toten. Einige Grabsteine, die den Namen Windmüller tragen, sind auch heute noch zu finden, nicht jedoch jene seiner ursprünglich in Emden beheimateten Großeltern: Während Max‘ Vater Moritz Windmüller nach der Flucht 1937 in Groningen starb, wurde seine Großmutter Jette 1942 in Auschwitz ermordet. Auch Adolf Windmüller, der Bruder von Moritz Windmüller, und seine Frau Johanna, die nicht aus Emden geflohen waren, liegen nicht hier: Beide wurden 1942 im Vernichtungslager Chelmno umgebracht. Auch für diesen Teil der Windmüller-Familie, Aries Großonkel – und -tante und deren Kinder, liegen inzwischen Stolpersteine. Als die Gruppe diese in der Boltentorstraße betrachtet bleibt eine alte Dame stehen und erinnert sich: „Adolf Windmüller – den habe ich gekannt!“ Sie erzählt, wie sie als kleines Kind Unterhaltungen ihrer Eltern belauscht habe: „Die sind jetzt auch abgeholt worden“ – so hieß es immer wieder.
Die letzte Station des Spazierganges bildet die ehemalige Kaserne: Nichts erinnert heute mehr daran, dass hier 1947 2342 Exodus-Juden untergebracht waren. Nachdem ihnen die Einreise nach Palästina verweigert worden war, hatte die britische Regierung über 4000 Menschen, die mit drei Schiffen aus Europa fliehen wollten, wieder zurück nach Deutschland geschickt. Vom Hamburger Hafen, wo sie zum Teil gewaltsam von den Schiffen getragen worden waren, wurde ein großer Teil der Juden nach Emden gebracht. Damit lebten von November 1947 bis zum August 1948 wieder Juden in der großteils zerstörten Stadt – eine Episode, die damals weltweit für Furore gesorgt hat, an die keine Gedenktafel erinnert, die auch aus dem Gedächtnis der Bevölkerung weitgehend getilgt zu sein scheint. Auch Arie Windmüller kennt diese Geschichte nicht: Zwar sind ihm Nachfahren der Exodus-Flüchtlinge bekannt, doch dass diese kurz nach dem Krieg aus Emden in den im Mai 1948 gegründeten Staat Israel eingewandert waren, war ihm nicht bewusst.
So endete dieser besondere Spaziergang durch Emden nach fast viereinhalb Stunden. Immer wieder haben Arie Windmüller und seine Frau erzählt und von ihrer Familie berichtet und so den Teilnehmern dieses Nachmittages sehr persönliche Einblicke in ihr Leben ermöglicht – vielen Dank dafür!
Der Empfang, der Spaziergang und der Festakt am Folgetag wurden von der Agentur Moevenherz filmisch dokumentiert, sodass der Besuch der Gebrüder Windmüller bald auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden wird. Ermöglicht wurden die Filmaufnahmen durch die Unterstützung der Sparkasse Emden.