Latzhose, dunkle Locken und ein kecker Blick: Das Foto des kleinen Jungen, der, etwa eineinhalb oder zwei Jahre alt, schelmisch in die Kamera blickt, wirkt ganz typisch und doch ist es mehr als nur ein Schnappschuss aus einem Familienalbum, denn eigentlich hätte dieses Kind schon tot sein sollen. „Ich war Staatsfeind Nummer Eins!“ – mit diesen Worten verdeutlichte Tswi Herschel am Freitag die Dimension des Holocausts: Unter den sechs Millionen jüdischen Opfern waren allein 1,5 Millionen Kinder. Im Gegensatz zu den Erwachsenen, von denen einige dem Tod zumindest noch eine Zeitlang durch Zwangsarbeit entgehen konnten, wurden die meisten Kinder nach ihrer Ankunft in den Vernichtungslagern meist sofort umgebracht.
Ein Schicksal, das auch Tswi Herschel drohte – doch er überlebte, da ihn seine leiblichen Eltern bei der nicht-jüdischen Pflegefamilie de Jongh verstecken konnten: Wenige Monate nach seiner Geburt am 29.12.1942 wird er als Baby unter abenteuerlichen Umständen gerettet, während sein Vater und seine Mutter nach Sobibor deportiert und im Juli 1943 umgebracht werden – wie nahezu alle Verwandten. Nur seine Großmutter väterlicherseits überlebt ebenfalls den Holocaust als Untergetauchte. Bald nach dem Ende des Krieges steht sie vor der Tür der de Jonghs und nimmt ihren Enkel mit. Ein weiteres Trauma für Tswi, der fortan monatelang weint, bevor er wieder Kontakt zu den de Jonghs aufnehmen darf.
Vor knapp 450 Zuschauern erzählte Tswi Herschel am vergangenen Freitag in der Johannes-à-Lasco-Bibliothek und der Neuen Kirche seine Überlebensgeschichte anhand eines Lebenskalenders (s. Foto oben), den ihm sein Vater gezeichnet hatte, und beeindruckte sein Publikum damit sehr. Unter den vielen Gästen waren auch viele Schülerinnen und Schüler des Max-Windmüller-Gymnasiums, darunter der gesamte 10. Jahrgang. 24 Delegierte dieser Klassen hatten bereits vor der Veranstaltung am Mittag die Gelegenheit mit Herschel im kleinen Kreis zu sprechen. Vor allem aktuelle Themen und die Frage, warum Herschel überhaupt die Mühen auf sich nimmt, nach Deutschland zu reisen, um vor Schülern zu sprechen, wurden thematisiert: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschehen ist. Aber jeder Einzelne ist verantwortlich dafür, darauf aufzupassen, dass es nicht wieder soweit kommt“, mahnte der Herschel immer wieder. Vor allem populistische Strömungen seien mit Vorsicht zu betrachten, weshalb die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit von besonderer Wichtigkeit sei.
Diese Position vertraten auch Darja Matzner und Tobias Bruns: Nach der einfühenden Rede des Oberbürgermeisters Bornemann sprachen die BBS II-Schülerin und der Max-Schüler von der gemeinsamen Reise beider Schulen nach Israel. 2017 hatte die Gruppe dort Yad Vashem und eine große Gedenkveranstaltung zur Ankunft der Exodus besucht. Vor allem aber ein Gespräch mit Auguste Moses-Nussbaum, einer der letzten beiden jüdischen Überlebenden Emdens, sei im Gedächtnis geblieben: „Ich blicke heute anders auf die Stadt, wenn ich durch die Brückstraße gehe“, so Bruns. Moses-Nussbaum hatte überlebt, weil sie in den Niederlanden versteckt war, ebenso wie Tswi Herschel. Nur dadurch hatte er überlebt, während bis auf seine Großmutter alle weiteren Verwandten ermordet worden waren. Heute hat Herschel seine eigene Familie und lebt mit seinen Kindern und Enkeln in Israel. „Ich bin einsam, aber nicht allein.“