Dass Albrecht Weinberg den Holocaust überlebt hat, grenzt an ein Wunder: Als britische Soldaten kurz vor Kriegsende das Konzentrationslager Bergen-Belsen erreichten, wog der damals Zwanzigjährige nur noch 57 Pfund. Inmitten Tausender Toter und Sterbender wartete auch er auf den Tod, der nur durch die Befreiung durch die Engländer noch abgewendet wurde. Und anders als viele, deren ausgemergelte Körper von der plötzlichen Nahrung, die ihnen von den Befreiern gegeben wurde, überfordert waren und dann starben, überlebte Weinberg auch dies. Damit endete für ihn eine knapp zweijährige Leidenszeit in Konzentrationslagern, die am 20. April 1943 mit seiner Ankunft in Auschwitz begann.
Knapp neunzig Minuten erzählte Albrecht Weinberg am Montag am Max-Windmüller-Gymnasium seine Geschichte, die am 7. März 1925 begann: Als drittes Kind einer jüdischen Familie wurde er nach seinem Bruder Diedrich und seiner Schwester Friedel in Westrhauderfehn geboren. Schon früh machte er Bekanntschaft mit dem Antisemitismus auf dem Fehn: So wurde sein Vater, der als Schlachter und Viehhändler seinen Lebensunterhalt verdiente und ein Veteran des Ersten Weltkrieges war, in dem er für den Kaiser gekämpft hatte, nur selten beim Namen gerufen. Stattdessen hieß es: „Wo ist der alte Jude Weinberg?“ Und auch Albrecht selbst wurde immer wieder Zielscheibe des Judenhasses: Als er einmal im Winter durch die Eisdecke des zugefrorenen Kanals brach, halfen seine am Ufer stehenden Klassenkameraden nicht, sondern sangen nur: „Sit een Jöd in’t Deep, sit een Jöd in’t Deep, wenn he versuppt, ik help hum neet.“
In der Reichspogromnacht 1938 wurden auch die Scheiben seines Elternhauses eingeschlagen und Weinbergs Vater wird zusammen mit den anderen Juden aus Leer, wo die Familie inzwischen wohnen muss, zusammengetrieben und später in das KZ Sachsenhausen deportiert. Zwar kehrte er im Februar 1939 später zurück, doch wurde die Situation für Weinbergs Eltern immer aussichtsloser: Nachdem sie eine Zeitlang in einem „Judenhaus“ in Berlin leben mussten, wurden sie zunächst nach Theresienstadt und schließlich nach Auschwitz deportiert, wo beide 1944 umgebracht wurden.
Zu diesem Zeitpunkt hat Albrecht Weinberg schon über ein Jahr das Konzentrationslager überlebt: Als Häftling mit der Nummer 116927 ist er nicht in Birkenau, dem Vernichtungslager, sondern muss für die IG Farben Zwangsarbeit in Auschwitz-Monowitz verrichten. Mit seinem Bruder Diedrich überlebt er die Selektion bei seiner Ankunft und schafft es auch trotz grauenhafter Bedingungen am Leben zu bleiben: „Ich war klein und brauchte nicht so viel Nahrung wie andere.“ Viele andere ertragen die Qualen jedoch nicht: „Jeden Morgen sahen wir die Toten am Zaun, die sich in der Nacht durch einen Griff an den unter Spannung stehenden Draht umgebracht hatten“, erzählt Weinberg den Schülern. Immer wieder hält er während des Gesprächs inne: „Das, was ich gesehen habe, kann ich euch gar nicht alles erzählen“, sagt er dann und deutet seine schlimmsten Erlebnisse nur an.
Als die Sowjets im Januar 1945 näher rücken, wird das Lager geräumt, doch für ihn und die verbliebenen Insassen ist es noch nicht vorbei: Nach einem Todesmarsch nach Gleiwitz wird er in das nächste KZ gebracht. In Mittelbau-Dora muss er, schon beinahe völlig entkräftet, noch Monate am Bau der V2 mitwirken, der Wunderwaffe der Nazis.
Anfang April 1945 wird Weinberg abermals verlegt: Weitere Todesmärsche und Transporte führen ihn schließlich nach Bergen-Belsen, wo er befreit wird. Lange hat Weinberg diese Geschichte nicht erzählt: Nach dem Krieg machte er sich auf die Suche nach seinen Geschwistern und fand schließlich Dieter und Friedel wieder. Doch nachdem sein Bruder 1946 durch einen Unfall gestorben war, emigrierte Albrecht Weinberg mit seiner Schwester in die USA. Dort schlägt er sich in New York durchs Leben und kehrt erst 1981 zurück nach Deutschland, um einer Einladung des Berliner Senats zu folgen, der Überlebende eingeladen hatte, die von dort aus in die Konzentrationslager deportiert worden waren. Rhauderfehn besucht Weinberg erst später wieder: 1985 ist er erstmals wieder dort, wo er seine Kindheit verbracht hat. In den 1990er Jahren wird dort eine Gedenktafel für die Familie Weinberg enthüllt und eine Straße nach den Geschwistern benannt, bevor eine schwere Erkrankung Friedels dafür sorgt, dass Albrecht und sie 2012 von Freunden nach Leer geholt werden, wo Friedel einige Zeit später stirbt.
Albrecht Weinberg spricht heute vor Schülern über sein Leben: „Ihr müsst wachsam sein und aufpassen, dass so etwas nicht wieder geschieht“, sagte er auch zu den Schülerinnen und Schüler am Max. Anlass zur Sorge gäbe es jedoch reichlich: „Der Antisemitismus nimmt wieder zu.“
Bilder: Tobias Bruns