Geplant war alles ganz anders: Eigentlich waren kurz vor den Ferien 36 Angehörige der Familie Windmüller in Emden und am Max erwartet worden, die aus Israel, den Niederlanden, der Schweiz und sogar aus Indien anreisen wollten, um Maurice Windmüller durch die Verlegung eines weiteren Stolpersteins für die Familie Windmüller zu gedenken. Doch zu diesem Familientreffen in der ehemaligen Heimatstadt der Windmüllers kam es leider nicht: Infolge des schrecklichen Terrorangriffes der Hamas auf Israel konnten weite Teile der Familie leider nicht kommen. Zahlreiche Flüge waren wegen der Raketenangriffe aus dem Gaza-Streifen gestrichen worden, sodass die Verlegung am Mittwoch nicht stattfinden konnte.
Allein Yehuditha Knaan und Michal Parizada, beide geborene Windmüller, kamen mit ihren Ehemännern Isac und Daniel in die Heimatstadt ihres Vaters Emil, des jüngsten Bruders von Max. Sie waren bereits am Freitag von Tel Aviv nach Amsterdam geflogen, um die Stolpersteinverlegung mit einer kleinen Urlaubsreise in die Niederlande zu verknüpfen. Doch die Vorfreude auf das Familientreffen in Emden endete am nächsten Morgen abrupt: Unaufhörlich warnte die Raketenalarm-App Red Alert vor neuen Geschossen, die aus Gaza abgefeuert wurden. Doch damit nicht genug: Wenig später wurde deutlich, dass Terroristen an vielen Stellen des Landes wahllos Zivilisten ermordet hatten – ein beispielloser Angriff auf Israel.
Im ersten Augenblick wollten die beiden Paare sofort zurück nach Hause – doch angesichts der unübersichtlichen Lage und der zunehmenden Stornierung von Flügen wurde die Aussichtslosigkeit des Unterfangens rasch klar. „Wir haben uns deshalb entschieden, trotzdem nach Emden zu fahren“, berichtete Issac Knaan. „Wir wollten Emden, die Heimatstadt unseres Vaters und Schwiegervaters, und insbesondere das Max-Windmüller-Gymnasium sehen.“
Am späten Dienstagnachmittag kamen die Windmüller-Nachfahren an und erkundeten in Begleitung von Kai Gembler und Kristin Greite die Orte des früheren jüdischen Lebens in Emden: Neben dem Ort des Familiengeschäftes in der Mühlenstraße, in der ein blauer Punkt neben den bereits verlegten Steinen den Ort der Verlegung des Stolpersteins markierte, besuchten die vier Israelis den jüdischen Friedhof, das Mahnmal für die zerstörte Synagoge und natürlich die Max-Windmüller-Straße, die ebenso große Bedeutung für die Geschichte der Familie hat wie unser Gymnasium.
Dort erzählten Michal und Yehuditha am Mittwoch aus ihren Erinnerungen: Vor insgesamt knapp 140 Schülerinnen und Schülern schilderten die beiden Frauen wie ihr Vater Emil nach seiner gelungenen Flucht aus den Niederlanden, an der sein Bruder Max maßgeblichen Anteil hatte, sich ein neues Leben in Israel aufbaute. Als überzeugter Zionist gehörte er zu den Mitgründern eines Kibbuz, einer besonderen Form des Zusammenlebens in Israel, die sich durch gemeinsames Eigentum und gemeinschaftliche Arbeit zum Wohle der Kommune auszeichnete. Zu den Besonderheiten dort gehörte die Erziehung der Kinder: „Wir wohnten nicht bei unseren Eltern, sondern im Kinderhaus. Dort schliefen wir, bekamen zu essen und dort kümmerte man sich um unsere Erziehung“, berichteten die beiden Schwestern. „Am Abend besuchten uns unsere Eltern und verbrachten Zeit mit uns – jeden Tag vier Stunden nur für uns. Es war herrlich!“
Beinahe keine und nur kaum Erinnerungen hatten die beiden hingegen an Maurice Windmüller: Zwar wusste die ältere Schwester Yehuditha, dass ihr Onkel Salomon einen kleinen Sohn namens Maurice gehabt hatte, doch war man in der Familie bislang davon ausgegangen, dass Maurice gemeinsam mit seinen Eltern in Auschwitz umgebracht worden war. In der heutigen Gedenkstätte für das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager war die jüngere Michal im März dieses Jahres zum ersten Mal in einem Totenbuch auf den Namen Maurice Windmüller gestoßen. „Ich hatte nie zuvor von ihm gehört und deshalb ein Foto gemacht.“ Doch im Laufe der Reise geriet der Name wieder in Vergessenheit – bis eines Abends ihr Cousin Arie Windmüller anrief, um zu berichten, dass ein Stolperstein für Maurice verlegt werden soll. Mit nicht einmal eineinhalb Jahren 1944 war der Neffe von Max Windmüller von den Nazis in Auschwitz ermordet worden – ein schrecklicher Mord, der stellvertretend für etwa 1,5 Millionen Kinder steht, die während des Holocaust umgebracht worden waren. „Es ist schön zu wissen, dass es ihn gab – und es ist schrecklich, was ihm widerfahren ist.“
Zum Ende gaben die Gäste Einblicke in ihre Gefühle: Seit Sonnabend hatten alle vier kaum geschlafen und stattdessen immer wieder versucht, Neuigkeiten über Freunde, Familie und Arbeitskollegen zu erfahren. „Wir haben immer wieder nur geweint“, berichteten Michal und Yehuditha. Seit dem Holocaust seien noch nie so viele Juden ermordet worden. Wegen der geringen Größe des Landes kenne jeder jemanden, der umgebracht wurde oder einen geliebten Menschen verloren habe. Insbesondere in den nahe Gaza gelegenen Kibbuzen habe es viele Opfer gegeben. Besonders schrecklich sei zudem die Ungewissheit, wie Michals Ehemann Daniel schilderte, der sechs Jugenddörfer mit insgesamt 1300 Kindern leitet: „Ich habe keine Ahnung wie es ihnen geht.“ Verständlich, dass die beiden Paare so bald wie möglich zurückreisen wollten – allerdings war es nicht einfach, Flüge zu bekommen. Trotz der großen Sorgen und der Ungewissheit sei der Besuch in Emden und am Max die richtige Entscheidung gewesen: „Wir danken euch für eure Aufmerksamkeit und das herzliche Willkommen – das hat uns sehr geholfen!“