Am 1. Januar 2025 ist Leon Weintraub 99 Jahre alt geworden – doch so fühlt er sich ganz und gar nicht: „Ich habe deshalb beschlossen, die Zahl auf den Kopf zu stellen.“ Dass Weintraub trotz seines hohen Alters noch mitten im Leben steht, wurde am Montag im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern der Yad Vashem-Partnerschulen deutlich, an dem auch die Geschichts-Leistungskurse 12 und 13 und Mitglieder des Projektes Keep the memory alive teilnahmen. Gut eine Stunde berichtete Weintraub aus seinem Leben, das 1926 in Łódź begann. Als fünftes Kind wurde er seinen Eltern nach vier Töchtern geboren und sorgte damit für große Freude, war doch damit ein Junge geboren, der einmal für seinen Vater das traditionelle Totengebet, das Kaddisch, sprechen konnte. Doch dazu kam es nicht, denn bereits 1927 starb Leons Vater tatsächlich und viel früher als erwartet.
Fortan schlug sich die Mutter als Witwe mit vier Kindern durch – ein hartes Leben, an das sich Weintraub trotzdem gern erinnert. Bestimmte Gerichte wie Gefillte Fisch oder Tscholent und das Gefühl von Wärme haben seine Erinnerung an seine frühen Jahre geprägt. Auch an die Schule erinnert er sich gern – „eine Oase“ für den begeisterten Schüler, der angesichts seiner guten Leistungen das Gymnasium besuchen soll. Doch dazu kam es nicht, denn der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 führt dazu, dass Leon nicht die weiterführende Schule besuchen darf. Stattdessen wird er mit seinen Geschwistern ins Ghetto Litzmannstadt umgesiedelt, wie seine Heimatstadt Łódź inzwischen von den Besatzern genannt wird.
Dort lebt die Familie in noch deutlich größerer Armut. Hunger und fürchterliche Grausamkeiten gehören nun zum Alltag im Ghetto. So hat sich Weintraub ins Gedächtnis eingebrannt, wie ein Nazi-Soldat einem alten Mann mit dem Bajonett den Bart mitsamt der Gesichtshaut abtrennt. Doch die Schrecken nehmen zu: 1944 wird Weitraub nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo seine Mutter bereits bei der Ankunft für den Tod in der Gaskammer selektiert wird. Leon Weintraub bleibt am Leben und wird Zeuge des brutalen Systems der Entmenschlichung: Enthaarung, Desinfektion und das Eintätowieren der Häftlingsnummer machen aus Leon einen Todgeweihten. Tagtäglich liegt der Gestank von verbranntem Fleisch in der Luft, der von den verbrannten Leichen über das Lager weht. Eine Flucht ist unmöglich, denn der elektrische Zaun um das Gelände lässt diese nicht zu. Leon ist allein in Auschwitz-Birkenau – nur einmal trifft er einen Bekannten aus Łódź: Einen Jungen, der trotz seines Häftlingsstatus wohlgenährt ist. „Vielleicht kann sich mein Blockältester auch Deiner annehmen“, schlägt der Junge vor, doch Leon lehnt ab, ahnt er doch, dass der Preis dafür in sexuellen Gefälligkeiten besteht.
Nur durch Zufall wird Leon nicht umgebracht, sondern gelangt über einen Gefangenentransport in das KZ Groß-Rosen. Kurz vor Ende des Krieges wird Leon zunächst nach Flossenbürg verlegt und anschließend nach Struthof, bevor er während eines Todesmarsches fliehen kann und am 23.4.1945 endlich befreit wird. Nach dem Krieg sucht Leon seine Familie – und findet drei seiner Schwestern im ehemaligen KZ Bergen-Belsen, das nun als DP-Lager dient. Dort erfährt er von der Möglichkeit, als Überlebender der NS-Verfolgung studieren zu dürfen. Trotz seiner nur sechsjährigen Grundschulzeit gelingt es ihm, an der Universität Göttingen ein Medizinstudium aufzunehmen. Dort lernt Leon Weintraub seine Frau kennen, mit der er 1950 nach Warschau zieht, um dort an der Frauenklinik zu arbeiten. Doch auch dort fühlte sich Leon nur einige Jahre sicher: Angesichts des zunehmenden Antisemitismus wandert er mit seiner Familie nach Schweden aus, wo er bis heute lebt.
Eine beeindruckende Lebensgeschichte eines Mannes, der heute immer wieder Vorträge hält: „Ich habe beschlossen, mich bis zum Ende gegen den Hass zu stellen.“
Herzlichen Dank an Leon Weintraub und ebenso vielen Dank an Anne Lepper, Julian Tsapit und Gad Marcus, unsere Partner von Yad Vashem!