Mitte April ist in Israel viel los – innerhalb einer Woche liegen drei sehr wichtige und emotionale Feiertage: Am 08. April ist Jom haScho’a, der Gedenktag für die Opfer des Holocausts, am 14. April folgt Jom haZikaron, der Gedenktag an die gefallenen israelischen Soldaten und Opfer des Terrorismus, und ein Tag danach der israelische Unabhängigkeitstag Jom haAtzma’ut. Dieses Jahr jährt sich am 11. April zudem zum 60. Mal der Beginn des Eichmann-Prozesses. Anlässlich dieser drei Gedenktage und des Jubiläums des Prozessbeginns durfte die Projektgruppe „Keep the memory alive“ der Nadav Democratic School aus Israel und des Max-Windmüller-Gymnasiums aus Emden den sehr bewegenden Geschichten von Dr. Abe Spigler und seiner Tochter Sari Avraham lauschen. Sari Avraham ist Englischlehrerin an der Democratic School in Modi’in und findet es sehr wichtig, dass Geschichten wie die ihres Vater oder ihre eigene weitergegeben werden.
Wie zu Beginn schon erwähnt, sind dies sehr emotionale Tage, und das für jeden. Abe hat den Holocaust nicht direkt mitbekommen und auch Sari war nicht im Krieg, aber dennoch wurde und wird ihr Leben sehr davon beeinflusst. In welcher Weise Angehörige und Nachfahren mit Holocaust und Krieg konfrontiert werden, davon haben die beiden erzählt.
Abe hat zunächst von seinen Eltern erzählt. Sein Vater, Kalman Spiegler, arbeitete nach der Schule zunächst als Buchbinder, bevor er von der polnischen Armee eingezogen wurde. Später, während des Krieges, kehrte er zurück nach Polen zu seiner Familie, die mittlerweile im Ghetto lebten. Ihm wurde ein Posten als jüdischer Polizist angeboten, den er jedoch ablehnte. Daraufhin wurde er deportiert. Er war in verschiedenen Konzentrationslagern, darunter Auschwitz, Gleiwitz und Mittelbau-Dora. 1945 war auch er, wie so viele andere auf einem Todesmarsch, den er aber überlebte. Sie kamen in Neustadt an, wo er auf eines von drei Schiffen kam. Zwei der drei Schiffe wurden zerbombt, darunter auch das, auf dem sich Kalman Spiegler befand. Nach über 24 Stunden wurde er schließlich gerettet und in ein Krankenhaus gebracht, wo er versorgt wurde.
Auch seine Mutter, Rocha Spiegler, geb. Mankunski, hatte es nicht leicht. Sie war in erster Ehe verheiratet und hatte zwei Töchter. Eines Tages standen sie in einer Schlange, um ihre Essensrationen abzuholen, als alle Juden aus der Schlange gedrängt wurden. Ihr Mann wurde zu Tode geprügelt und ihre zwei kleinen Töchter in einem Massengrab erschossen. Nach den Morden floh Rocha und landete schließlich in Neustadt, wo sie Kalman kennenlernte. Abe Spigler lebte nach seiner Geburt in einem DP-Camp (Displaced-Person-Camp) im Jahre 1947, nur kurz in Deutschland. Als er zwei Jahre alt war, emigrierte seine Familie nach Australien, wo sie sich ein neues Leben aufbaute. 1972 zog er mit seiner Frau und ihrem ersten Sohn nach Israel – und machten damit die so genannte Alija – wo er bis heute lebt.
Abe hat den Holocaust nicht selbst erlebt, aber sein Leben war davon gezeichnet. Ihm wurde von seiner Mutter jeden Tag davon erzählt. Er erlebte selbst, was der Holocaust für Spuren in seiner Familie hinterlassen hat. So erzählte er, dass er bis heute nicht einmal in einer Schlange gestanden habe, um sich etwas zu essen zu holen – bei Buffets wartet er lieber, bis alle weg sind oder lässt sich etwas mitbringen aus Respekt vor seinen verstorbenen Schwestern. Die Geschichten sind vergangen, aber sie leben weiter.
Danach erzählt seine Tochter Sari ihre Geschichte anlässlich des Gedenktages der Gefallenen der Kriege Israels. Sie erzählt von einer Liebesgeschichte, die nicht so glücklich ausging, wie die ihrer Großeltern. In Israel leistet jeder, sowohl Männer als auch Frauen, nach der Schule ein paar Jahre Militärdienst. Auch ihr Bruder ging somit zum Militär, wo er nahe der Grenze zu Libanon stationiert wurde. Sari hat dann mit 17 Jahren ihren Freund kennengelernt. Sie waren über zwei Jahre zusammen und beide absolvierten ihren Militärdienst, weshalb sie sich nicht oft sahen. Auf drei Wochen Arbeit folgte eine Woche Urlaub. Doch wenn sie sich sahen, verbrachten sie ihre ganze Zeit zusammen. Ofir war ihre erste große Liebe und ihre Beziehung war sehr innig, Sari und er stritten sich eigentlich nie. Sie wollten heiraten und verlobten sich während ihrer Zeit beim Militär.
Ofir war die letzten drei Monate zusammen mit Saris Bruder an der libanesischen Grenze stationiert. Er war mit ein paar anderen Soldaten auf einem Kontrollgang durch die ansässigen Dörfer, als er schwer von einer Landmine verletzt wurde. Normalerweise rief er Sari immer an, sobald er zu Hause war. An diesem Tag kam aber kein Anruf von ihm. Stattdessen erhielt sie einen von seiner Mutter, die ihr erzählte, dass er in ein Krankenhaus eingeliefert worden sei. Zusammen mit ihrem Vater fuhr sie sofort dorthin, doch kurz nachdem sie ankamen, wurde ihnen mitgeteilt, dass Ofir es nicht geschafft habe.
Diese Nachricht hat Saris Leben von einen zum anderen Augenblick völlig verändert. Die folgenden Tage waren hart für sie, die Wochen und Monate danach noch härter. Der Verlust ihres Verlobten hat sie tief getroffen. Bis heute stehen die beiden Familien in engem Kontakt.
Heute ist Sari verheiratet und hat vier Kinder. Sie denkt sehr oft an Ofir. „Every day is Memorial Day, not just the 14th of April”, sagte sie, nachdem sie uns die Geschichte erzählt hatte. Sie ist glücklich mit ihrem heutigen Leben, aber erzählt ihren Schülern regelmäßig diese doch sehr persönliche Geschichte. „Dieser Schicksalsschlag hat mich auch zu dem gemacht, was ich heute bin.“
Im Meeting anwesend war auch Saul Spigler, der jüngere Bruder von Abe. Er lebt in Australien und auch er erzählt Schülern seine Familiengeschichte. Alle drei, Sari, Abe und Saul, wollen nicht, dass diese Geschichten vergessen werden. Sie haben das gleiche Ziel, wie die Projektgruppe, deren Name schon genau das sagt. Wie bereits gesagt, die Geschichten sind vergangen, aber sie leben weiter. Sie leben weiter, damit ein Bewusstsein dafür geschaffen wird und damit so etwas nie wieder passiert.
Diese sehr bewegenden Geschichten haben gezeigt, dass Gedenktage nicht nur Tage im Kalender sind, an denen man eventuell noch frei hat. Sie sind eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Gedenktage erinnern an Vergangenes von gestern, damit wir heute darüber nachdenken und lernen und es morgen nicht wiederholen.
Laura Oldewurtel