„Ich wollte noch einmal die Sonne sehen!“: Dem Tode nahe, hielt Erna de Vries noch eine weitere Nacht durch – ihre letzte Nacht im Konzentrationslager Auschwitz. Sie sah die Sonne und überlebte nach dem Transport in das KZ Ravensbrück letztlich ein Martyrium, das sie auf sich genommen hatte, um ihre Mutter nicht allein zu lassen.
Gemeinsam wurden beide im Juli 1943 in das Vernichtungslager deportiert und blieben bei den Selektionen zunächst verschont. Doch im September 1943 wird Erna Korn, so ihr Mädchenname, angesichts ihres schlechten Gesundheitszustandes in den Todesblock 25 verlegt, um auf ihre Ermordung am kommenden Tag zu warten. Kurz bevor der Transport in die Gaskammer abfährt, wird ihre Häftlingsnummer gerufen: Erna wird nicht umgebracht, sondern verlegt. Als „Mischling 1. Grades“ soll sie nach Ravensbrück und dort weiterarbeiten, während ihre geliebte Mutter in Auschwitz bleiben muss. „Du wirst überleben und erzählen, was man mit uns gemacht hat“ – das sind die letzten Worte von Jeanettte Korn, die wenige Wochen später am 8. November 1943 umgebracht wird.
Diesen Auftrag hat Erna de Vries unermüdlich bis ins hohe Alter umgesetzt: Nachdem sie 1995 begonnen hat, ihre Geschichte zu erzählen, war Erna de Vries in vielen Talkshows ebenso zu Gast wie an unzähligen Schulen. Auch am Gymnasium am Treckfahrtstief, dem Vorläufer des Max, hat sie immer wieder aus ihrem Leben erzählt, zuletzt im Rahmen des Projekttages „Migration und Flucht“, der 2015 anlässlich des 70. Todestages Max Windmüllers stattfand.
Organisiert hat diese besonderen Begegnungen immer wieder die ehemalige GaT-Lehrerin Maria Gärtner, die Erna de Vries zu einer guten Freundin wurde und bis zuletzt mit ihr und ihren Töchtern in Kontakt stand. Wie sie jetzt mitteilte, ist Erna de Vries in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag im Alter von 98 Jahren gestorben.
Das Max-Windmüller-Gymnasium wird Erna de Vries ein ehrendes und dankendes Andenken bewahren. Unser tiefes Mitgefühl gilt ihren Angehörigen.
Zur Erinnerung an die beindruckenden Besuche von Erna de Vries an unserer Schule eine Reportage von den damaligen Neuntklässlern Jan-Michel Lamschus und Tom Grimm aus dem Jahr 2009:
„Ich bin froh, dass ich mich nicht an meine Träume erinnere“
„Du wirst überleben und erzählen, was man uns angetan hat“, sagt Erna de Vries und alles verstummt. Diesen Auftrag hat Erna de Vries von ihrer Mutter in Auschwitz bekommen und sie hat sich daran gehalten: Seit nun schon über 10 Jahren besucht sie Schulen und berichtet aus ihrem Leben, damit diese Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten.
Erna de Vries ist am 21. Oktober 1923 in Kaiserslautern geboren. Ihr evangelischer Vater war Geschäftsmann und ihre jüdische Mutter führte sein Unternehmen weiter, als er 1931 mit 46 Jahren an einem Herzinfarkt starb. Das Geschäft war wegen Hitlers Machtübernahme jedoch nur bis 1935 zu halten, da die Aufhetzung gegen die Juden immer extremer wurde.
„Wir mussten von dem Ersparten leben und all unsere Wünsche zurückstellen.“, erzählt Frau de Vries. Auch in der Schule wurde sie als Jüdin beschimpft und hatte keine schulischen Perspektiven mehr, da Juden vom Abitur und anderen Bildungsmöglichkeiten ausgeschlossen wurden. „Meine Mutter nahm mich somit von der Schule und schickte mich zu den Franziskanern, wo ich mich auch sehr wohl gefühlt habe.“ Doch auch von dieser Privatschule wurde sie 1937 von ihrer Mutter genommen, was sie sehr bedauerte. Nun arbeitete sie in einer jüdischen Wäschenäherei.
Als sie beginnt, von der Reichspogromnacht am 10. November 1938 zu erzählen, halten alle im Raum den Atem an. „Ich musste den Schlüssel für die Wäschenäherei abholen, als es laut an unserer Tür klopfte. Als meine Mutter die Tür öffnete, waren wir sehr gespannt, wer am frühen Morgen störte. Ein Nachbar erzählte uns, dass in der Stadt Massen von Menschen Geschäfte und Häuser von Juden demolierten und zerstörten. Meine Mutter wollte mich und meinen Vetter, welcher zur Zeit bei uns wohnte, ungern aus dem Haus gehen lassen. Trotzdem verließ ich das Haus und lief zu meiner Arbeitsstelle. Der Weg dorthin war schrecklich: brüllende Horden mit Spitzhacken und Vorschlaghämmern liefen umher, schlugen Fenster ein und zerstörten sämtliche jüdische Synagogen. Dreißig Minuten nachdem ich bei meiner Arbeit angekommen war, klopfte es und jemand schrie: „ Alle aufstellen, Juden raus!“ Ich hatte jedoch nur meine Mutter im Kopf und rannte nach Hause.“ Nachdem ihr Haus vollkommen zerstört worden war, fuhr Erna de Vries mit ihrer Mutter auf Anordnung der Kriminalpolizei nach Köln. Dort lebten sie bei ihren Verwandten, doch nach kurzer Zeit ging ihre Mutter wieder zurück nach Kaiserslautern, wohin auch Erna de Vries an Weihnachten zurückkehrte. In Köln versuchte sie eine Stelle als Krankenpflegerin in einem jüdischen Kranken zu bekommen, dies war allerdings erst mit achtzehn Jahren möglich, weswegen sie ein Jahr eine alte Dame pflegte. Nachdem sie als Lehrling in dem Krankenhaus anfing, entkam sie einer Deportation, doch dann sollte ihre Mutter schließlich nach Auschwitz gebracht werden. „Bitte nehmen sie mich mit meiner Mutter mit. Es ist doch eh nur noch eine Frage der Zeit, bis ich auch dorthin komme!“, berichtet Erna de Vries aus ihrem damaligen Gespräch mit einem Polizisten. Beide waren sich ihres Schicksals bewusst und deshalb machte sich die Mutter auch Sorgen und wollte nicht, dass ihre Tochter mit ihr kommt. Auf die Frage, ob sie alle Entscheidungen noch einmal so treffen und wieder mit ihrer Mutter gehen würde, antwortet Erna de Vries: „Ja, wahrscheinlich würde ich alles genauso machen.“
Als beide nach 6 Tage langer Zugfahrt in Auschwitz-Birkenau angekommen waren, wurden sie ausgezogen. Alle behaarten Körperstellen wurden rasiert, mit einem Schwamm desinfiziert und schließlich wurden sie mit der Häftlingsnummer tätowiert, die sie uns an dieser Stelle ihres Berichtes zeigt.
Sie wurden als Arbeiter eingeteilt und mussten an zwei mit Leichen gefüllten Krematorien vorbeilaufen. Die Zustände im Lager waren miserabel. Jeden Morgen, Mittag und Abend mussten die Häftlinge zum Zählappell antreten, egal zu welchen Wetterbedingungen. Es gab kaum etwas zu trinken und nur sehr schlechtes Essen. Sie schliefen teilweise zu viert in einem Bett und man infizierte sich schnell mit Krankheiten. „Ich hatte eine starke Allergie gegen Wanzen. Da dort alles voll mit Ungeziefer war, habe ich mir nicht heilende, eiternde Wunden am Bein zugezogen. Deswegen trennte man mich bei einer Selektion von meiner Mutter, die dieses zum Glück nicht bemerkte, und ich wurde in den Block 25, den Todesblock, gesteckt. Wir wussten genau, am nächsten Tag wird Vergasung sein.“
Die Verhältnisse im Todesblock waren erdrückend: über 600 Menschen auf engstem Raum zusammengekehrt, alles stank nach Schweiß, man hatte keine Position zum Sitzen oder Liegen, jeder redet und stößt und der ein oder andere bricht zusammen. Mit diesen Bildern im Kopf werden wir die Verhältnisse in Auschwitz besser verstehen, wenn wir im Mai dorthin fahren. Sicherlich wird es bedrückend werden, aber die Geschichte von Frau de Vries bereitet besser vor als jedes Schulbuch. Sie verbrachte nun die Nacht im Wissen um ihren bevorstehenden Tod und ihre Mutter nie wieder zu sehen. Sie war sehr schwach und hatte keine Kraft mehr, um irgendetwas zu tun.
„Ich hatte einen Wunsch, ich wollte die Sonne noch mal sehen. Ich hab gedacht, wenn ich die Sonne sehe, dann kann mir doch nichts passieren.“, so Erna de Vries, als sie mit ihren Kräften am Ende war. Doch dann wurde sie doch nicht vergast. Stattdessen erfuhr sie, dass sie in das KZ Ravensbrück gebracht werden sollte, um dort für Siemens zu arbeiten. Erna de Vries traf sich daraufhin heimlich ein letztes Mal mit ihrer Mutter und der Gewissheit, sie nie wieder zu sehen. „Du wirst überleben und erzählen, was man uns angetan hat!“, das waren einige der letzten Worte ihrer Mutter. Am 8. November 1943 starb die Mutter von Erna de Vries. Erna de Vries überlebte, weil sie am Ende des sieben Tage langen Todesmarsches von amerikanischen Panzertruppen befreit wurde.
„Hatten sie eine Möglichkeit, diese Zeit zu verarbeiten?“, fragt ein Schüler, nachdem nach einer Pause des Schweigens lautstark applaudiert wird. „Ich habe sehr viel mit meinem Mann, welcher diese Zeit auch miterlebt hat, darüber gesprochen. Einige Dinge haben wir uns hunderte Male gesagt. Das hat uns sehr darüber hinweggeholfen.“ Die Frage, ob sie noch von ihrer Zeit in Auschwitz träume, antwortet sie: „Ich bin sicher, dass ich davon träume, aber ich kann diese Träume nicht greifen. Ich vergesse sie sofort wieder. Und ich bin froh, dass ich mich nicht an meine Träume erinnere!“
Erna de Vries hat bereits über 100 Schulen besucht, davon allein 17 in diesem Jahr und somit das getan, was ihre Mutter ihr aufgetragen hat.